Sie sind uncool, sie kennen sich wirklich gut mit Computern aus - und selbst Bruce Willis kommt nicht mehr ohne sie aus. Ob im Actionkino oder in der Popmusik: Die Nerds, technikbegeisterte soziale Außenseiter wie MC Frontalot, erobern mit digitalem Knowhow die Kultur.Damian Hess sieht bestimmt nicht aus wie ein HipHop-Star. Mit dem Streifenhemd in der Hose, der bunten Krawatte und zu großen Hornbrille ähnelt Hess eher dem Büromärtyrer Dilbert. Sogar eine Zugangskarte baumelt ihm im Plastiktäschchen an der Brust.
Hess, 33 Jahre alt, ist ein Nerd. Einer, der sich am Computer sicherer fühlt als in Gesellschaft. Einer der früher verspottet wurde, weil er statt auf dem Fußballfeld lieber auf dem Mauspad wütete. Doch Nerds erleben seit Jahren einen ungeheuren Aufschwung. Aus den Computertrotteln von einst wurden die coolen Bescheidwisser von heute.
Anstatt gegen das Image des IT-Langweilers anzukämpfen, nahm es der New Yorker Hess mit auf die Bühne. Als MC Frontalot hat er den Nerdcore miterfunden; HipHop von Nerds über Nerdthemen. Darin ist er der Meister: Er rappt über Lichtschwerter und Festplattencrashs, über gelbe Laser und Internetpornos. HipHopper mögen die Sprache der Straße sprechen, Hess kennt dafür den Unterschied der Programmiersprachen C++ und Java.
Damian Hess beherrscht mit ziemlicher Sicherheit ein paar Fetzen Klingon, die Sprache der Raumschiff-Enterprise-Aliens, weiß immer, was gerade im Netz los ist und schreibt seinen eigenen Blog. Er träumt von einem Segway, dem sündhaft teuren Hightech-Roller, und vom Highscore im Ur-Computerspiel Pong. Außerdem ist er der Hauptprotagonist in der Dokumentation "Nerdcore Rising", einer von zwei Filmen, die gerade über die coolen Uncoolen gedreht werden. Claim: "Die Nerdcore Revolution"
"Die Nerds haben gewonnen", titelte bereits 2000 der "American Scientist", als der Internetprovider AOL ankündigte, das Time Warner Medienimperium für sagenhafte 164,75 Milliarden Dollar zu übernehmen. Fernsehen und Print verloren damals gegen Internet und New Media. Hosenträger gegen Hornbrille. Das war kurz bevor die erste Internetblase zerplatzte, ein kleiner Vorgeschmack auf den Aufstieg der Nerds in den kommenden Jahren.
Lori Kendall, 48, beobachtet diesen Trend schon seit knapp zehn Jahren. Sie ist Nerdforscherin an der Universität von Illinois. In ihrem Aufsatz "Nerd Nation: Images of Nerds in U.S. Popular Culture" analysierte sie die Darstellung der Technikfreaks in Filmen und Medienberichten. Ihrer Meinung nach zeichnete sich der rapide Aufstieg der Außenseiter schon seit Anfang der Achtziger ab. Schon damals wurden Nerds mit Computern assoziiert. Die Rechner verbreiteten sich, wurden wirtschaftlich und kulturell immer wichtiger. Und mittendrin die Nerds, die mit ihrem Zugriff und Wissen über Technik und Technologie immensen Erfolg genossen und immer mehr Macht bekamen.
"Wenn der reichste Mensch der Welt ein Nerd ist und kein Ölscheich, dann verschieben sich natürlich die Relationen der Rezeption von 'Computer', sagt Johannes Grenzfurthner vom Wiener Künstlerkollektiv Monochrom. In ihrer Ausstellung "fnerd!" veranstalteten sie ein kollektives Brainstorming zum Nerdbegriff. Klar wird auch Außenstehenden dabei schnell: Die Nerds schrauben mit viel Wissen und Engagement an Welt und Kultur. Mit Projekten wie der Wikipedia verändern sie die Art und Weise des Umgangs mit Wissen. Sie brachten innerhalb eines Jahrzehnts die Entertainment-Industrie ins Stolpern, indem sie Kulturgüter digitalisierten und frei zugänglich machten. Sie tun sich zusammen, vernetzen sich jenseits althergebrachter Klüngeleien. Sie sprengen mit ihren sozialen Netzwerken, mit "Weisheit der Masse"-Websites die Grenzen zwischen Technik und Mensch.
Nerds sind die "digital natives", die Eingeborenen der digitalen Welt. Sie sind mit dem Rechner aufgewachsen, er dient ihnen als ganz normales Werkzeug, Kommunikationsplattform und Unterhaltungsmaschine. Auf der anderen Seite stehen die "digital immigrants", wie sie Autor Marc Prensky 2005 in einem viel beachteten Aufsatz nannte. Sie versuchen aufwendig, mit der neuen Technik Schritt zu halten, noch einen Fuß in die Tür zu bekommen. Aber egal, wie sehr sie sich anstrengen, sie bleiben immer Fremde, "reden mit einem Akzent," so Prensky: Sie drucken sich E-Mails aus, lesen Anleitungen für Computerprogramme und rufen die Kollegen ins Büro, um ihnen eine Website zu zeigen, anstatt ihnen einfach einen Link per Instant Messenger zu schicken.
Doch so sehr sich das Erfolgsmodell Nerd auch auszubreiten scheint, für Lori Kendall haftet den Computerfreaks dauerhaft der Ruch des Versagertums an: "Heute benutzt jeder den Computer und das Internet", so Kendall. "Aber man unterscheidet immer noch zwischen sich selbst und denen, die 'wirklich' wissen, wie man mit Computern umgeht. Diese Leute - Nerds - werden immer noch etwas abschätzig betrachtet." Kendall rechnete eigentlich damit, dass diese Grenze zwischen Nerd und Normalo verschwimmen würde, doch davon ist selbst ihre neuesten Untersuchungen nichts zu merken. Vielleicht rührt die Distanz der Normalos zum Nerd ja einfach aus der Angst vor der unbekannten Macht des Spezialwissens.
Wie diese Ehrfurcht vor dem Nerd aussehen kann, brachte ausgerechnet Hollywood auf den Punkt. Die Brüder Larry und Andy Wachowski kürten in ihrer "Matrix"-Filmtrilogie einen schlaksigen Programmierer, bleich und verschlossen, zum Heiland, zum Retter der Welt. Neo verkörperte einen neuen Typ Mensch, für den es zwischen der Maschinen- und der sogenannten echten Welt keinen Unterschied mehr gibt. Als er die rote Pille schluckt, die ihm Morpheus anbietet, stirbt der Nerd-Mensch und wird als Messias wiedergeboren. In der Matrix ist er ein Halbgott in Schwarz, fähig, die dortige Wirklichkeit mit purer Gedankenkraft zu verändern - und dabei auch noch reichlich cool auszusehen. Keine Spur mehr vom erbärmlichen Stubenhocker. Die alte Verschlossenheit und Aura der geistigen Absenz machen Neo nur umso mysteriöser und damit attraktiver.
Die Kino-Industrie hat sich längst darauf eingestellt, vor allem im Fantasy- und Action-Genre verstärkt ein Nerd-Publikum zu bedienen. Zudem wird die digitale Welt immer komplizierter für die Haudegen alter Schule, ein Trend, der in "Stirb langsam 4.0", der nächste Woche in Deutschland anläuft, auf den Punkt gebracht wird: Oldschool-Star Bruce Willis, der am liebsten mit den Fäusten kämpft, bekommt mit Nachwuchs-Talent Justin Long einen verschlufften, aber pfiffigen Computerfreak zur Seite gestellt, der so manche brenzlige Situation meistert - und dafür sogar die Gunst von Willis' hübscher Filmtochter erntet.
Dabei ist der Nerd, darauf weißt Kendall ausdrücklich hin, als männliche Identifikationsrolle durchaus zwiespältig. Per se gilt der Nerd als eher asexuell. Das erkannten zuerst Frauen, die in der Rolle von Nerdgirls versuchten, sich über Rollenklischees hinwegzusetzen: 1997 rief Amelia Wilson in ihrem NrrdGrrl! Manifest Frauen, die "irgendwie nicht reinpassen" auf, sich zusammenzutun. Die Website Suicidegirls.com will mit dem scheinbaren Widerspruch noch immer Kasse machen: Sexy Frauen mit Computer-Hobbys. Das förderte die Nerd-Pride-Bewegung: Ich bin stolz, ein Nerd zu sein. Seit 2006 wird von Spanien ausgehend, am 25. Mai der "Geek-Nerd Pride Day" gefeiert.
Warum der Nerd dann aber doch noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, könnte auch an ganz anderen Mechanismen liegen, die Lori Kendall aufdeckte. Ihr fiel auf, wie oft die Nerd-Identität speziell einer stereotypen Identität des "schwarzen Mannes" entgegengesetzt wird. Neo und Morpheus, der Nerd Steve Urkel in der Sitcom "Alle unter einem Dach" - und eben auch im Nerd-HipHop. Der Nerd wird dort als Gegenstück zum schwarzen "Gangsta" gezeigt. Nirgendwo wird das deutlicher als im Video "White & Nerdy" von Musik-Komiker Weird Al Yankovic. Dort versucht ein weißer Vorstadtkerl von den großen schwarzen Jungs akzeptiert zu werden. Das klappt freilich nicht. Selbsturteil: zu weiß und nerdig. Mit dieser Parodie des HipHop-Stücks "Ridin" von Chamillionaire und Krayzie Bone setzte Yankovic dem Nerdcore ein Denkmal, das es bis in die Top 10 der amerikanischen Billboard-Charts schaffte.
Auch MC Frontalot hat mit Akzeptanz-Angelegenheiten zu kämpfen. Zwar gewinnt er regelmäßig HipHop-Battles, bei denen sich Rapper gegenseitig mit den perfekten Reimen und dem besten Flow übertrumpfen wollen. Aber eines fehlt ihm noch: das Strafregister, zentrales Element jeder Gangsta-Karriere. In seinem Stück "Crime Spree" kommt er zur Selbsterkenntnis: "MC Frontalot, ein Erzbösewicht, den die Polizei nicht sucht. Bin schon seit Tagen außer Kontrolle, irgendwann müssen sie mich doch kriegen. Bin die größte Gefahr weit und breit: Ich mülle, ich lunger, reiß Etiketten von Matratzen. Und erst die ganzen raubkopierten MP3s, Arrrr." Für eine Haftstrafe macht der Nerd-Rapper einfach alles, sogar ohne Helm Fahrrad fahren und bei Rot über die Ampel gehen. Trotzdem: Knast? Keine Chance. Der Nerd bleibt eben ein Außenseiter. Und das ist auch gut so.
Quelle :
www.spiegel.de