Der Mensch weiß viel mehr, als er denkt. In seinem Unbewussten lagern riesige Wissensschätze. Wer es versteht, sie freizulegen, kann wahre Wunder vollbringen. Wissenschaftler versuchen, die Kraft des Unbewussten zu enträtseln.Zuerst war nur Staunen. Peter Lu war gebannt von der Perfektion, mit der die Elemente des mittelalterlichen Mosaiks ineinandergriffen. Doch dann wurde er stutzig. Dieses regelmäßige Muster aus zehnzackigen Sternen, das sich da über den Darb-i-Imam-Schrein in Isfahan ausbreitete, erinnerte den Harvard-Physiker an etwas - richtig! Quasi-Kristalle, komplizierte geometrische Strukturen. Von diesem Moment an wunderte sich Peter Lu, als Tourist in Iran unterwegs, noch mehr: Hatten Forscher die mathematischen Regeln solcher Strukturen nicht erst im späten 20. Jahrhundert entschlüsselt?
So war es. Wie die Architekten des Mittelalters die regelmäßigen Muster in Moscheen und anderen religiösen Stätten konzipiert haben konnten, ist seither ein Rätsel. Was versetzte sie in die Lage, mathematisch exakte Formen zu entwerfen, ganz ohne Berechnung? Es existiere aus jener Zeit nicht der kleinste Hinweis auf den theoretischen Hintergrund, der zum durchdachten Konzipieren solcher Muster notwendig ist, berichten Archäologen und Islamwissenschaftler.
Zurück in Harvard, begann Lu, nach Antworten zu suchen. Doch das Geheimnis liegt auf einem für Physiker recht unwegsamen Terrain. Er wollte logische Kausalitäten und Beweise finden, aber ihm blieb nur die Erkenntnis, dass die alten Baumeister des Rätsels Lösung offenbar mit in ihre Gräber genommen hatten. In ihren Köpfen, die einst eindrucksvoll jene Fähigkeit demonstrierten, die nicht Physiker und Archäologen, wohl aber Hirnforscher und Psychologen heute langsam zu verstehen beginnen: Intuition nennen sie jene Form unbewussten Wissens um Formen, Funktionen und Zusammenhänge, die ganz ohne Berechnung und Erklärung auskommt. Ein Wissen, das sich meist gar nicht formulieren lässt, weil Formeln fehlen. Das sich aber Ausdruck verschafft in der bildenden Kunst, in der Musik, aber auch täglich in Tausenden kleinen Entscheidungen des Alltagslebens. Jeder Mensch vertraut jeden Tag diesem Gespür, das ihn in Gesprächen wie traumwandlerisch den richtigen Ton treffen und nie da gewesene Situationen einschätzen lässt, ohne dass er seine Reaktion rein rational erklären könnte.
Das Mosaik in Isfahan ist ein seltener Beweis, dass sogar wissenschaftlich komplexe Resultate aus jenem sechsten Sinn entstehen können, den der Volksmund kurz Bauchgefühl nennt. Heute suchen Hirnforscher dafür nach Erklärungen, legen ihren Probandendicke Fragebögen vor, schicken sie ins Kernspingerät, kleben ihnen Elektroden auf die Haut und lassen sie Aktienentwicklungen einschätzen. Dabei ist die Welt außerhalb der Labors voller Beispiele: Ständig beweist der Mensch, dass er mehr weiß, als er denkt und beschreiben kann. Ohne nachzudenken, entscheidet er spontan: Kann er noch schnell über die rote Ampel huschen oder muss er warten? Soll er mit dem Partner zusammenziehen oder doch lieber seine eigene Wohnung behalten? Im Unterbewusstsein jedes Menschen lagern Wissensschätze, aus denen er täglich schöpft, ohne es zu merken.
"Der Verstand, den Menschen einsetzen, um vermeintlich kluge Entscheidungen zu treffen, ist begrenzt und macht nur einen kleinen Teil unseres tatsächlichen Wissens aus", sagt der amerikanische Intuitionsforscher Milton Fisher. "Dennoch handelt es sich, wenn wir eine Intuition haben, um den Abruf von Informationen, die wir irgendwann über unsere fünf Sinne wahrgenommen und gespeichert haben."
Dahinter steckt die Erkenntnis der Kognitionsforscher: Menschen können den permanenten Lernprozess ihres Gehirns nicht unterbrechen. Hat das Auge eines bildenden Künstlers im Vorübergehen einmal eine Form gestreift, wird sie ihm mit ein wenig Glück irgendwann, vielleicht im Augenblick des Mosaikbaus, zu Bewusstsein kommen. Elf Millionen Sinneswahrnehmungen in der Sekunde bombardieren den Menschen, selbst dann, wenn er bloß abends auf dem Sofa herumlümmelt: Das fahl werdende Sonnenlicht, das Brutzeln und der Duft des Abendessens aus der Küche, der Druck des Sofakissens im Rücken und vieles mehr verarbeitet das Gehirn, ohne dass das Bewusstsein davon etwas mitbekäme.
Nicht nur nach einem langen Arbeitstag wäre es mit der Verarbeitung aller Eindrücke völlig überfordert. Nach etwa 40 Sinneseindrücken, die gleichzeitig das Gehirn erreichen, wird der stete Input daher in einen anderen Speicher umgeleitet: ins Unterbewusstsein. "Und manchmal dringt aus diesem Wissensschatz ein kleiner Fetzen ins Bewusstsein, dann haben wir eine Intuition", sagt der Psychologe Fisher: das ungute Gefühl etwa, das uns beschleicht, wenn das Brutzeln verstummt und sich eine leicht beißende Note in den Essensduft mischt. Blitzschnell schaltet das Gehirn dann ohne Nachdenken auf eine völlig andere Situation um. Erkennt Zusammenhänge, Formen, Probleme oder Lösungen.
Doch Intuition erlaubt nicht nur schnellere Entscheidungen, sondern spart auch Energie; schließlich hat das Gehirn schon Schwerstarbeit geleistet und Millionen von Informationsfetzen gesammelt, ehe es zum ersten Mal intuitiv entscheiden kann. "Informationsscheibchen" würde Malcolm Gladwell sagen, dessen Buch "Blink" dem Thema zu neuer Popularität verholfen hat. Darin beschreibt er das intuitive Vorgehen des Gehirns als "Scheibchenschneiden": "Auf Grundlage extrem dünner Scheiben von Erfahrung entdeckt unser Unbewusstes Muster in Situationen und Verhaltensweisen", erklärt Gladwell. Dazu bediene es sich einfacher Faustregeln, die erst dadurch gültig werden, dass das Gehirn die ausgeblendeten Informationen durch Annahmen ergänzt.
Ein riskanter Tausch, könnte man meinen. Doch haben Menschen es während der Evolution hervorragend gelernt, Schlüsse über ihre Umwelt zu ziehen. Wenn Steinzeitmenschen vor der Höhle ein Knacken hörten, war das nicht einfach nur ein Geräusch. Es konnte auch ein wildes Tier sein. Damit der Mensch überleben kann, muss sein Gehirn Muster analysieren statt Einzelheiten und einen Küchenbrand vermuten, wenn sich nur eine Duftnote verändert.
Entscheidungen, die allein auf solch mageren Fakten beruhen, verunglimpfen Menschen gern als Vorurteile. Doch nur mit solchen Vorurteilen, mit solchen Erkennungsmustern kann das Gehirn Bedeutsames aus der steten Informationsflut filtern.
"Die Intelligenz des Unbewussten besteht darin, in jeder Situation auf die passende Faustregel zurückzugreifen", sagt der Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Die Frage ist nur: Können wir diesen unbewussten Speicher auch in komplexen Zusammenhängen nutzen? Wie kann der Mensch davon besser Gebrauch machen?
Gemeinhin vertrauen Menschen gerade bei schwierigen Entscheidungen ihrem analytischen Verstand wesentlich mehr als ihrem Bauchgefühl. "Zwar akzeptieren die meisten von uns, dass es unrealistisch ist, von grenzenlosem Wissen und unbeschränkter Zeit auszugehen, wenn man aus vielen Optionen eine auswählen muss. Andererseits sind wir überzeugt, dass wir ohne diese Einschränkungen und mit mehr Logik bessere Entscheidungen treffen würden", sagt Gigerenzer. Doch liegt der Mensch mit dieser Einschätzung nicht unbedingt richtig.
Der Heidelberger Psychologe Henning Plessner hat dies in einem Experiment nachgewiesen. Er ließ seine Probanden von einem Nachrichtenticker die Kursentwicklungen fünf verschiedener Aktien laut ablesen, während ihre vermeintliche Hauptaufgabe darin bestand, ebenfalls auf dem Monitor gezeigte Werbespots zu beurteilen. Anschließend konnten die Probanden keine Frage beantworten, die Plessner ihnen zu den Aktien stellte. Erst als sie frei von der Leber weg über die Aktien sprechen durften, trumpften die Studenten auf: Sie konnten die Aktien gefühlsmäßig einwandfrei beurteilen und stuften die Kurse mit den höchsten Gewinnen tatsächlich am positivsten ein. "Dieses Ergebnis hat mich eine gewisse Ehrfurcht vor unserem Denkorgan gelehrt", sagt Plessner.
Der Preis für so einen Einsatz der Intuition ist der Verzicht auf bewusstes Wissen. "Gute Intuition ignoriert Informationen", erklärt Gigerenzer. Wer intuitiv sein will, darf sich also keine Gelegenheit geben, über sein Handeln nachzudenken. Oft fehlt die Gelegenheit ohnehin - etwa wenn Notärzte Unfallopfer versorgen müssen und jede Minute zählt. Der Psychologe Gary Klein von der Oakland University berichtet von einem ähnlichen Fall mit einem Feuerwehrmann: Als das Löschteam den Brandherd nicht orten konnte, schrie der Mann plötzlich: "Alle raus!" Und kurz darauf stürzte das Haus zusammen. Anschließend konnte der Mann nicht erklären, wie er das vorhergesehen hatte. Erst auf beharrliche Nachfrage des Psychologen erinnerte er sich: Es sei ungewöhnlich still gewesen, das vertraute Rauschen des Feuers habe gefehlt und gleichzeitig sei es sehr heiß gewesen. "Weil das nicht zusammenpasste, habe ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt."
Wenn nicht äußere Umstände wie eine nahende Feuersbrunst zur schnellen Entscheidung zwingen, kann es helfen, sich selbst der Gelegenheit zum Nachdenken zu berauben. Auf diesen Trick griff der kanadische Starpianist Glenn Gould zurück, über den Gigerenzer in seinem Buch "Bauchgefühle" berichtet: Als Gould kurz vor einem Konzert einmal nichts zustande brachte, weil er nervös versuchte, sich auf die Musikstücke zu konzentrieren, schaltete er kurzerhand Staubsauger, Fernseher und Radio in seiner Wohnung ein. Er nahm sich selbst die Möglichkeit, auf seine Spielweise zu achten, und plötzlich gingen ihm die Stücke wie traumwandlerisch von der Hand.
Das rationale Kalkül ist offenbar so fehleranfällig, dass ihm allein nicht zu trauen ist. Der Verstand braucht einen unbewussten Berater, schnell, immer zur Stelle und kompetent. Einen, der nicht auf Einzelheiten fixiert ist, sondern Muster und Zusammenhänge herstellt. Doch kann und sollte das jeder: das Nachdenken einfach abstellen? Auf sein Gefühl vertrauen wie im Blindflug? Schließlich ist nicht jeder ein Glenn Gould. Oder ein Brandexperte. Das Gehirn muss dem intuitiven Entscheider schon ein paar passende Faustregeln bereitstellen und das heißt: Es muss unbewusst bereits Informationsfetzen zu einem Thema gesammelt haben.
Zwar führen Plessners Aktienkurs-Experimente eindrucksvoll vor, wie weit sich selbst Laien im Labor auf ihr intuitives Fachwissen verlassen können. Doch im Ernst des Lebens sollten "Neulinge auf einem Gebiet lieber in Ruhe überlegen und alle möglichen Konsequenzen ihres Handelns gründlich analysieren", empfiehlt Sportpsychologe Markus Raab von der Universität Flensburg. "Nur wer auf einem Gebiet schon Erfahrung gesammelt hat, darf und soll seiner Intuition ruhig häufiger vertrauen." Dann bringt sie vielleicht kleine Wunder wie das Mosaik von Isfahan hervor, dessen Konstrukteure vermutlich auch Profis auf ihrem Gebiet waren.
Die eigenartigen Erzeugnisse des Unbewussten waren es seit jeher, die diesen Graubereich menschlichen Wissens und Verhaltens als mystisch und objektiven Forschern schwer zugänglich erscheinen ließen. Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts Sigmund Freud das Unbewusste zu einer Art Rumpelkammer für verdrängte Affekte und Schuldgefühle erklärt hatte, arbeiten Forscher heute an der Rehabilitation des impliziten Wissens und warten mit fundierten Kenntnissen darüber auf, wie das Gehirn den ständigen Abgleich zwischen unbewusst Bekanntem und bewusst Neuem bewerkstelligt. Ein Grundprinzip dabei ist die Arbeitsteilung: Während die linke Hirnhälfte Bewusstsein und konzentriertes Denken verwaltet, Gleichungen löst und den Wocheneinkauf zusammenstellt, entzieht sich die rechte Hirnhälfte solcher Rationalität. Sie agiert gefühlsbezogen, ganzheitlich - kurz: intuitiv.
Die Praxis bestätigt, dass vor allem Experten von der Arbeitsweise ihrer rechten Gehirnhälfte profitieren: Sie sind mit intuitiv getroffenen Entscheidungen im Nachhinein zufriedener als mit den Resultaten langen Nachdenkens - obwohl sie ihrer Intuition vor einer Entscheidung weiterhin misstrauen. So befragte die Beratungsfirma Novem Business Applications im vergangenen Jahr 381 Manager, welche Voraussetzungen sie sich für wichtige Entscheidungen wünschen. "Genauere Informationen" antworteten 60 Prozent, 57 Prozent der Befragten wollten "mehr Zeit" - beides Bedingungen, auf die Menschen bei intuitiven Entscheidungen verzichten. 47 Prozent der Manager gaben jedoch an, besonders erfolgreiche Entscheidungen "eher intuitiv" getroffen zu haben.
Der Grund dafür ist mittlerweile in vielen Experimenten nachgewiesen. So zeigte der Sportpsychologe Markus Raab 85 geübten Handballern kurze Videoausschnitte eines Handballspiels, und ließ sie spontan eine Reaktion nennen, die sie in der jeweiligen Spielsituation am sinnvollsten fanden. Dann bat Raab sie, in Ruhe zu überlegen, ob es nicht bessere Alternativen gebe. Anschließend beurteilten mehrere Nationaltrainer die Entscheidungen so: Die intuitiv getroffenen seien die klügeren gewesen. Je länger die Probanden nachdachten, desto schlechter waren ihre Vorschläge. Nur Spieler mit sehr viel Erfahrung entschieden sich auch nach längerem Nachdenken wieder für die erste, spontane Reaktion. "Ein Theorietraining, bei dem sich die Spieler viele Handlungsalternativen überlegen sollen, bringt nichts", folgert Raab aus seinem Versuch. Sein Rat an Sportler lautet: "Sammle so viel Erfahrung wie möglich."
Wenn ein Handball mit 30 Metern pro Sekunde über das Feld saust, bleibt ohnehin nicht viel Zeit zum Überlegen. Lässt sich Raabs Rat dennoch auf Entscheidungen von Managern übertragen?
Der Psychologe Bruce Burns von der Michigan State University würde das bejahen. Nachdenken koste nur unnötig Zeit, folgert er aus einem Experiment mit Schach-Profis. Burns wertete Partien von 120 Spielern aus, bei denen ihnen für jeden Zug nur siebeneinhalb Sekunden Zeit blieben. Das Ergebnis: Die Profis spielten genauso gut wie in zeitlich unbegrenzten Partien.
Bleibt die Frage: Worin ist jeder Einzelne besonders geübt? Auf welchem Feld kann er seinen unbewussten Kenntnissen vertrauen? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Kaum ein Gebiet des Alltagswissens ist bekannt, in dem nahezu alle Menschen Experten sind - mit Ausnahme der Erkennung von Gesichtern. Bis auf die Minderheit sogenannter Gesichtsblinder können Menschen in den höchst komplexen Mustern der Mimik ihrer Mitmenschen sehr exakt lesen und ihr jeweiliges Gegenüber blitzschnell einschätzen. Wie schnell und präzise, hat die Psychologin Nalini Ambady von der Harvard University in Cambridge gezeigt. Sie filmte Schulstunden, erstellte Videoclips ohne Tonspur von nur zwei Sekunden Dauer und ließ dann Probanden anhand der Mimik und Gestik einschätzen, wie aufmerksam, warmherzig, dominant, optimistisch, ehrlich, professionell und ermutigend die Lehrer waren.
Resultat: Das Blitzurteil deckte sich weitgehend mit dem, das Schüler am Ende eines kompletten Halbjahrs abgegeben hatten.
Wie das Gehirn bei solch einer Intuitionsleistung vorgeht, wie es Muster erkennt, selbst wenn sie - etwa im Fall individueller Gesichtszüge - mehr oder weniger variantenreich und unvollständig existieren, diese Frage stellte sich Kirsten Volz am Max-Planck-Institut für Kognitionswissenschaften in Leipzig. Volz suchte die Intuition mithilfe eines Kernspingeräts, das die Gehirnaktivität ihrer Probanden darstellt. In einem Experiment projizierte sie für jeweils 400 Millisekunden unvollständige Bilder von Alltagsgegenständen auf die Brillen, die ihre 15 Probanden in der Kernspinröhre trugen. An einigen Stellen waren die Umrisslinien der Gegenstände herausgefiltert, sodass die Objekte wie mit einem Tintenkiller bearbeitet aussahen. Wenn die Probanden ein Objekt erkannten, meldeten sie das per Tastendruck. "Es war dann immer eine bestimmte Hirnregion aktiv, die wir den medialen orbitofrontalen Kortex nennen", berichtet Volz. "Der ist so etwas wie eine Schaltstelle, die ankommende Informationen daraufhin bewertet, ob das Gehirn etwas Ähnliches bereits kennt."
Das Areal, das aus wahrgenommenen Bruchteilen ein Ganzes generiert, liegt ungefähr dort, wo der Haaransatz beginnt. In Volz' Experiment war diese Hirnregion umso aktiver, je weniger von der ursprünglichen Zeichnung noch zu erkennen war, denn das bedeutete mehr Arbeit für den orbitofrontalen Kortex. Hatte diese Region signalisiert, dass es sich wirklich um einen Gegenstand handelte, wurde eine andere Hirnstruktur aktiv, der Gyrus fusiformis, der für Objekterkennung zuständig ist. Erst danach drückten die Probanden die Taste. Diese Arbeitsteilung zwischen unbewusster und zu Bewusst- sein kommender Aktivität beschleunigt die Entscheidungsfindung, weil der Gyrus fusiformis auf das abgesunkene Wissen im orbitofrontalen Kortex zurückgreifen kann.
Diese schnelle, Muster interpretierende und konstruierende Hirnaktivität wird umso wichtiger, je komplexer die Umgebung ist und je mehr unzusammenhängende Informationen auf den Menschen einstürmen. Ohne sein verborgenes Wissen wäre er heillos überfordert und unglücklich. So stellte der Psychologe Barry Schwartz vom Swarthmore College in Pennsylvania fest, dass intuitive Menschen, die sich vor einer Entscheidung mit wenigen Informationen begnügen können, nicht nur mit ihren Entscheidungen selbst, sondern insgesamt mit ihrem Leben zufriedener sowie selbstbewusster und optimistischer sind als sogenannte "Maximizers", die stets auf der Suche nach genaueren Daten sind. Anders als die intuitiven "Satisficers", wie Schwartz sie nennt, neigten Maximizers eher zur Depression, hätten Selbstzweifel und würden unter ihrem Hang zum Perfektionismus leiden.
Viele solcher Befunde stellen heute den Wert des rein rationalen Kalküls infrage.
Aber ist Intuition, wie Albert Einstein es formuliert haben soll, tatsächlich "alles, was zählt"? Dem schließen sich Psychologen nicht uneingeschränkt an. "Die Frage ist nicht, ob überhaupt, sondern in welchen Situationen wir uns auf Intuition verlassen sollten", stellt Gerd Gigerenzer klar. Und dabei ist die Erfahrung, die ein Mensch auf einem Gebiet bereits gesammelt hat, nur ein Kriterium. Wenn es zum Beispiel gilt, den Blick auf Einzelheiten zu richten und einen Zusammenhang ohne Vernachlässigung der Details herzustellen wie etwa im Beruf des Richters, verbietet sich eine reine Bauchentscheidung von selbst. "Was würden wir zu einem Richter sagen, der zugibt, sein Urteil intuitiv gefällt zu haben?", fragt der Erfurter Psychologe Tilmann Betsch.
Das Problem mit dem Unbewussten nämlich ist: Je nach persönlichen Erfahrungen können die Faustregeln der Intuition auch zu handfesten Vorurteilen werden. So könnte die Intuition einen Richter dazu verleiten, jemanden einer Tat zu verdächtigen, weil dessen Verhalten oder Aussehen ihn an frühere Angeklagte erinnert. Deshalb arbeiten viele Profis dem Übereifer ihres unbewussten Wissens dosiert entgegen: Ein Richter mahnt sich selbst zur Sachlichkeit. Und mancher Maler dreht ein Gemälde auf den Kopf, wenn er Einzelheiten eines Gesichts zeichnen will. So verhindert er, dass sein Gehirn in den wenigen Pinselstrichen sofort ein Ganzes erkennt, statt sich auf den korrekten Schwung der rechten Augenlinie zu konzentrieren.
Wann also sollte der Mensch seiner Intuition vertrauen? Für Alltagsentscheidungen außerhalb von Gerichtssälen, bei denen der Mensch Details vernachlässigen darf, gibt es auf diese Frage eine kurze und klare Antwort: "Immer dann, wenn man auf Wissen aus erster Hand zurückgreifen kann, liegt man mit der Intuition meistens richtig", sagt Betsch. Dann sei die Chance am niedrigsten, dass sich Vorurteile in Form manipulierten Wissens in eine Entscheidung einschleichen.
So sicher, wie jeder aus unverfälschter, selbst gewonnener Erfahrung ein Gesicht lesen kann, so manipulativ kann zusätzliches Wissen aus Büchern oder vom Hörensagen wirken. Eindrücklich zeigte das 1983 John Darley, Psychologe an der Princeton University. Er forderte zwei Gruppen von Probanden auf, spontan ein Mädchen während eines Tests zu beurteilen. "Intelligent, aufgeschlossen und begabt" sagte die eine Gruppe; "gehemmt, schwierig und lernschwach" urteilte die andere. Beide Gruppen hatten vor dem Test andere Informationen über die Herkunft des Mädchens erhalten.
Ähnlich gelagert ist der Fall bei allen Entscheidungen, in der eine Intuition sich Wissensbruchstücken aus zweiter Hand bedienen muss. "Die meisten Japaner würden wohl spontan urteilen, Heidelberg sei größer als Bielefeld", sagt Gerd Gigerenzer. Ihr Wissen über fremde Städte beziehen Touristen aus Reiseführern, und welcher Japaner kennt schon Bielefeld aus eigener Anschauung? Es ist unbekannter, also vermutlich kleiner, lautet der intuitive Trugschluss. Erst Expertise aus persönlicher Erfahrung macht also jene Entscheidungsregel gültig, die Gigerenzer nach Jahrzehnten der Forschung aufgestellt hat, um Intuition und bewusstes Wissen bestmöglich zu verbinden: "Nimm das Bekannte!" Das leuchtet jedem ein, der schon einmal in einem Multiple-Choice-Test über einer Frage gebrütet hat. Die meisten Menschen werden die Antwort ankreuzen, die sie schon irgendwo einmal gehört haben. Doch der Erfahrene hat weit bessere Chancen auf die richtige Lösung.
Er ist besser gefeit vor einer verzerrten Wahrnehmung durch fehlende Bruchstücke seines unbewussten Wissens. Gegen alle anderen Verblendungen, mit denen das Unbewusste die Wahrnehmung verändert, jedoch nicht. So ist, was wir sehen, stets stimmungsabhängig. Wer sich nicht wie ein Richter selbst zur Sachlichkeit mahnt, nimmt, wenn er zum Beispiel traurig ist, "eher Dinge wahr, die zu seinem Gemütszustand passen", sagt Petra Stoerig vom Institut für experimentelle Psychologie der Universität Düsseldorf. Und Stimmungen wie Angst können eine Faktenlage sogar völlig verdrehen: Gerd Gigerenzer hat berechnet, dass nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA 1500 Menschen mehr als üblich in einem Jahr bei Autounfällen starben. Ihr Unterbewusstsein suggerierte den Amerikanern damals, dass Autofahren sicherer sei als Fliegen.
Gegen solche intuitiven Fehlschlüsse helfen nur gute Selbstbeobachtung und Ermahnung zur Sachlichkeit. Einen intuitiven Sensor dafür, ob unsere Wahrnehmung verzerrt ist, gibt es nicht. "Das ist der Punkt, an dem Intuition zur Falle werden kann", sagt Henning Plessner. Und das ist auch der Grund, warum der Mensch besonders leicht in diese Falle tappt, wenn es nicht um einen äußeren Sachverhalt, sondern um ihn selbst geht. So glauben bei ihrer Hochzeit die meisten Paare fest daran, dass sie einen Bund fürs Leben schließen, obwohl den meisten von ihnen die aktuelle Scheidungsrate bekannt ist.
Wenn es um die Liebe gehe, handeln alle Menschen völlig intuitiv, sagt Gigerenzer. Wäre rationales Kalkül hier die bessere Alternative? Er habe nur einen einzigen Menschen getroffen, der dies bei der Wahl seiner Lebenspartnerin versucht habe, sagt Gigerenzer: einen, der alle möglichen Konsequenzen abwog, ihnen Zahlenwerten zuordnete, diese addierte und sich für den höchsten Wert entschied. Der Mann, ein Wirtschaftswissenschaftler, erstellte so eine Rangliste von Kandidatinnen. Die Erstplatzierte heiratete er. Mittlerweile ist das Paar geschieden.
Quelle :
www.spiegel.de