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Info Corner / Internet-via-Sat, Datendienste / IPTV / Videoportale / Internet TV & Radio => # News diverses ... => Thema gestartet von: SiLæncer am 10 Dezember, 2006, 13:48

Titel: Punk- Jubiläum: London calling - und das seit 30 Jahren
Beitrag von: SiLæncer am 10 Dezember, 2006, 13:48
Vor 30 Jahren erschien "Never Mind the Bollocks", das legendäre erste Album der Sex Pistols. Nun leben die Punks von gestern in Ikea-Wohnungen, auch Johnny Rotton sieht ganz traurig aus. Aber die Musik ist noch immer taufrisch, meint FAS-Autor Tobias Rüther.

Vivienne Westwood sieht jetzt aus wie die Queen, in Würde gealtert. Johnny Rotten dagegen - aber besser kein Wort darüber, wie traurig der heute herumläuft. Oder doch, er will es ja so, er zeigt sich auch freiwillig in Realityshows: Es gibt da ein Foto im Bildband "A Tribute to Sex Pistols" , das ihn beim Revival seiner Band im Jahr 1996 zeigt. Rotten trägt die Haare blondiert und zu einer Art Igelkrone aufbetoniert und einen glänzenden Anzug dazu. Aus Latex vielleicht? Ganz egal, wie kaputt und bescheuert die Sex Pistols sich und ihr Comeback selbst fanden, ganz egal, daß aller Protest an ihnen wie an Latex abperlen mußte, weil sie genau wußten, daß es nur konsequent war, was sie da verbrachen, weil Punk für die Sex Pistols und ihren Impresario Malcolm McLaren immer schon ein cleveres Geschäft war - alles ganz egal: Das zu sehen, diese elenden Figuren, die einmal so unendlich lebendig waren, treibt einem die Tränen in die Augen.

Um so schöner, um so wunderbarer, um so grandioser ist es da, jetzt, dreißig Jahre danach, dreißig Jahre nach dem Erscheinen von "Never Mind the Bollocks" im Oktober 1977, all die alten Fotos zu sehen und die Platten zu hören. Seltsam, daß Virgin, die Plattenfirma der Sex Pistols, nicht geplant hat, "Never Mind the Bollocks" wiederaufzulegen, bislang jedenfalls nicht. Dafür sind schon jetzt einige der großartigsten Platten von damals neu auf CD erschienen: Die ersten drei Alben von Ultravox zum Beispiel, allesamt zwischen 1977 und 1978 entstanden: unglaublich, wie produktiv die Band um John Foxx war, wie eiskalt melancholisch und neu ein Song wie "My Sex" vom Debüt "Ultravox!" immer noch klingt.

Aber vielleicht ist Punk deshalb so unschlagbar gewesen: weil er blitzschnell zusammengezimmert wurde, one, two, three, four, fertig - aber soviel Energie und Herz und Kopf darin war, daß er hochansteckend blieb, dreißig Jahre lang und länger. Ganz nah daran, wie das Jahr 1977 geklungen haben muß, kommt man auf einem Doppelalbum von Wire, deren legendäres Debüt "Pink Flag" von 1977 jetzt ebenfalls neu erscheint: Am 1. und 2. April 1977 spielte die Band im Londoner "Roxy" in der Neal Street, in einem ehemaligen Schwulenclub. Kein Song war länger als zweieinhalb Minuten, die meisten dauerten nicht mal halb so lang.

Auf der zweiten CD des Live-Doppelalbums spielt Wire dann im berühmten "CBGB's" in New York, wo die Vorreiter des englischen Punks - Blondie und Television und die Ramones - groß geworden waren. Es ist ein Jahr später, Juli 1978, und Wire eine andere Band. Jetzt regiert der nüchterne Formalismus, die nervöse Koketterie des New Wave, jetzt sind die Lieder architektonischer, feinsinniger. Die Tage der Wut sind vorbei, ab jetzt bewegen sich die besten Bands immer am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Ein Laden namens "Sex"

Wie schnell das damals ging, wie schnell vorne ganz hinten sein konnte, das hat der englische Romancier Tony Parsons in sein neuestes Buch geschrieben, es heißt "Als wir unsterblich waren2 und ist sehr autobiographisch: die Geschichte eines blutjungen Musikmagazinschreibers, wie Tony Parsons einer war, und der Nacht im August 1977, als Elvis starb, in London aber der Punk seinem Ende entgegentobte. Ein weiches Buch ist es geworden, eine Liebesgeschichte zwischen Menschen, die Musik lieben, aber keine Chronik wie das englische Nachschlagewerk "Punk - The Whole Story".

Das versammelt sie alle noch einmal: Joe Strummer von The Clash, Brian James von The Damned, die bei ihrem ersten Auftritt 1976 Vorband der Sex Pistols waren, Siouxsie Sioux, die Buzzcocks und die Stranglers. "Punk" erzählt wirklich die ganze Geschichte, und zwar von Anfang an, und der war in New York: Iggy Pop und die New York Dolls, Tom Verlaine und Richard Hell und die Ramones. Malcolm McLaren und seine Freundin Vivienne Westwood importierten den neuen Style, viel Latex, viel Fetischzeug und beschriftete T-Shirts, Mitte der Siebziger nach London, um ihn in ihrem Laden "Sex" in der King's Road an die Kinder zu verkaufen. Eines dieser Kinder war Johnny Rotten.

Auf jeder Seite des Buchs springt einem die "Erpresserbriefästhetik" (Tony Parsons) des Punks entgegen: ausgeschnittene Buchstaben, schief aufgeklebt, Buttons und Sicherheitsnadeln hängen zum Überfluß auch drin herum. Dagegen ist das streng sortierte Handbuch "Punk on 45" ein pures Glück: Es archiviert sorgfältig die nervösesten Singles dieser Jahre, die legendäre erste der Buzzcocks aus Manchester zum Beispiel, die erst ein eigenes Label gründen mußten, um ihre Musik überhaupt unter die Leute zu bringen: So wurde im Jahr 1977 auch noch der Independent-Pop begründet.

Drei Jahre später und einmal über den Atlantik sitzt Ian MacKaye mit drei Freunden in Washington D.C. zusammen. Sie schneiden Papphüllen für die Singles ihrer Band Minor Threat aus, falzen und kleben sie von Hand zusammen, zehntausend Stück. Es ist 1980, und Minor Threat spielen schneller, einfach schneller und härter als die Punkbands in England. Das war Hardcore. Die Dokumentation "American Hardcore", die am Donnerstag ins Kino kommt, erzählt die Geschichte von Minor Threat und den Bad Brains, von Black Flag und den Minutemen - es ist die Fortsetzung des Punks mit anderen Mitteln, weil Bands wie Minor Threat auf Mittelchen verzichtet haben.

Grobkörnige Schwarzweißmelancholie

"Straight Edge" nannte sich diese Haltung. Leute wie MacKaye wollten die Welt mit klaren, weit aufgerissenen Augen sehen, nicht verschleiert und zugedröhnt wie Sid Vicious von den Sex Pistols, der im Februar 1979 an einer Überdosis gestorben war: So schnell wurde aus einem Helden ein Idiot. "American Hardcore" erzählt aber auch, wie gleichzeitig in den Vorstädten von Washington, Boston und Austin, von San Pedro, Houston und New York junge Leute an der gleichen Sache arbeiteten, ohne voneinander zu wissen - so wie ein paar Jahre zuvor in London und Manchester. "The Revenge of the fucked up places" hat das Dave Haslam in seiner Chronik der Popmusikstadt Manchester genannt.

Dort taten sich 1976 nach einem Konzert der Sex Pistols drei Jungs zusammen, um eine Band zu gründen, per Anzeige suchten sie einen Sänger, und es meldete sich Ian Curtis. Erst nannten sie sich Warsaw, dann Joy Division, und als sie immer erfolgreicher wurden, als sie mit "Love Will Tear Us Apart" einen Jahrhundertsong geschrieben hatten und kurz davor waren, auf Tournee durch Amerika zu gehen, brachte Ian Curtis sich um. Der niederländische Fotograf Anton Corbjin, der Joy Division damals begleitete und porträtierte, hat nun einen Film über Ian Curtis gedreht: "Control" soll Mitte des nächsten Jahres ins Kinos kommen, Alexandra Maria Lara spielt mit - es ist nach Michael Winterbottoms Satire "24 Hour Party People" der zweite Film über die Musikszene Manchesters. Wer Corbjins grobkörnige Schwarzweißmelancholie kennt, wird sich auf düstere Schwermut gefaßt machen.

Aber eigentlich ist dieses Jubiläum nur ein Grund zum Jubeln, zum glücklichen Hervorkramen all der alten Schätze. Zwei der erfolgreichsten Bands von damals, The Clash und The Jam, feiern den Anlaß mit Kompilationen. "Direction, Reaction, Creation" von den Jam versammelt 117 ausgiebig kommentierte Lieder, "The Singles Box Set" von den Clash knapp die Hälfte, und natürlich unter denen "Police on my Back", genau wie bei den Jam "In the City". Es ist die schönste Musik zum Davonlaufen. Denn London ruft. Seit dreißig Jahren.

Quelle : www.spiegel.de